Verschwunden – 9. Wer sind die Komplizen?

„Lilli, Lilli! Wach auf!“, Marlenes Stimme drang immer lauter in mein Ohr. Langsam öffnete ich die Augen und sah erst einmal gar nichts außer dem dunklen Licht, das durch den Türschlitz strahlte. Meine Erinnerungen kamen viel schneller wieder zurück, als mir lieb war. „Ist Plan B aufgegangen?“, flüsterte Jonas. Sein Bein war mit Marlenes Schal verbunden. Marlenes Arme waren rot, sahen aber zum Glück nicht gebrochen aus. „Ja“, flüsterte ich, „Was ist mit deinem Bein passiert?“

– „Sagen wir, es sieht schlimmer aus, als es ist. Geht´s deinem Kopf wieder besser?“, antwortete er. „Vorhin schien es, als hättest du einen Dutt.“, versuchte Marlene zu flunkern, ich fiel aber nicht darauf herein. Ich setzte mich zu Jonas: „Darf ich dein Bein untersuchen? Meine Tante ist Ärztin, ich habe ihr öfter zugesehen und auch schon ein paar Erste-Hilfe-Kurse von ihr besucht und einiges gelernt.“ – „Okay…“, so ganz sicher sah Jonas zwar nicht aus, aber das ignorierte ich einfach. Ich band den Schal los. Die Stelle sah nach einer schlimmen Quetschung aus, aber etwas Salbe sollte helfen. „Ich schmiere ein wenig Salbe drauf und binde den Schal drum, hat jemand meinen grün-roten Beutel gesehen?“, fragte ich. Marlene schwenkte ein Beutelchen mit einem Finger in der Luft: „Meinst du dieses schlecht gehäkelte Beutelchen mit einem draufgenähten roten Kreuz?“ – „Ja, genau das. Nähen, häkeln und so Zeug liegt mir nicht.“, verteidigte ich mich. Ich versorgte die Wunden von uns dreien und sah auf die Uhr. Sie sah wie eine ganz normale Uhr aus. „Ich habe sie ausgeschaltet, sobald die Halunken dir zu dicht auf den Fersen waren, über meine kann ich das machen“, erklärte Jonas, nachdem er meinen Blick gesehen hatte.

„Ruhe“, brüllte der Verbrecher hinter der abgeschlossenen Tür, der klang wie Herr Lauseberg. „Ja, Herr Lauseberg“, antwortete ich aus Gewohnheit, weil ich immer eine von denen war, die im Religionsunterricht redete. Prompt kam die Antwort, die von meinem Lehrer zu erwarten war: „Wer hat das gesagt? Sag mir deinen Namen!“ Ich weiß nicht, warum, aber jetzt wurde ich frech: „Wenn Sie die Stimmen ihrer Schüler vergessen, sollten Sie sich lieber einen anderen Job suchen!  – Aber was rede ich da, das haben sie ja längst gemacht. Wie ist der Beruf als Verbrecher denn so?“ Ich war aufgestanden und stand jetzt mit verschränkten Armen vor der verschlossenen Tür. Ich glaube, ich bildete mir nicht nur ein, dass auf der anderen Seite der Tür etwas gewaltig brodelte und überkochen würde, wenn ich jetzt nicht damit aufhören würde, unverschämt frech zu sein. Aber gegen alle Vernunft blieb ich frech und legte nochmal nach: „Also, wie ist Ihr neuer Beruf denn so? Können Sie überhaupt sagen, was im Moment Ihre Aufgabe ist?“ Plötzlich fiel mir ein, wen ich gerade nachmachte: Lucy! Lucy ist das unverschämteste Mädchen, das ich kenne und das zufällig mit mir Religion hat und von der Art her genauso drauf ist, wie ich im Moment tat. „Warte, du bist diese Lucy, du hast meinen Unterricht immer so gestört, dass ich vom Direktor gefeuert worden bin! Jetzt in diesen Sommerferien musste ich mir wegen dir einen neuen Job suchen! Jedenfalls, sobald das Ding gelaufen ist, kann ich mir meinen Anteil abholen und verschwinde im Süden… und jetzt frage ich mich, was nützt mir der Schlüssel zu eurer Zelle, wenn ich an irgendeinem Strand in der Sonne brate? Ich glaube, ich schmeiße ihn in einen Gully, bevor ich am Flughafen ins Flugzeug steige. Und euch dann, gute Nacht!“
Er schien sich wieder zu beruhigen, was ich auf gar keinen Fall zulassen durfte, weil das meinen eben geschmiedeten Plan ohne weiteres zunichtemachen würde. Ich wurde also immer frecher und merkte, dass mein Plan fast aufging. Ein Blick zu Jonas und Marlene genügte, um zu wissen, dass sie meinen Plan durchschaut hatten. Ich ließ noch zwei, drei fiese Kommentare los, bevor wir uns auf den kommenden Fluchtweg bereit machten. Meine Rechnung ging auf, Herr Lauseberg schloss die Tür auf, um mich mächtig einzuschüchtern. In dem Moment, als wir die Türklinke hörten, rammten wir alle drei die Tür und hofften, dass das eine mächtige Beule bei Herr Lauseberg geben würde, und rannten los.

Jonas kam nicht schnell voran, aber das musste er auch nicht. Karina kam uns mit drei Polizisten entgegen: „Ein Glück, dass es euch gut geht. Nachdem Lilli mir nicht mehr geantwortet hat, haben wir uns echt Sorgen um euch gemacht! Bleibt das nächste Mal draußen, als SPEH seid ihr für uns sehr wichtig. Wenn ihr entführt wärt, wäre die KJD am Ende.“
Die anderen zwei Polizisten kamen auf uns zu: „Wir haben Wagner und ein Mädchen gefunden.“ Hinter den Polizisten kamen tatsächlich in dreckigen Klamotten Wagner und ein Mädchen. Das Mädchen schätzte ich auf 13 Jahre, sie war so groß wie ich und hatte langes, gewelltes Haar.
„Könnten Sie schnell mit dem Verhör beginnen? Wenn wir zu lange warten, finden wir die Komplizen nie“, fragte Jonas die Polizisten mit einem Blick rüber zu den drei Ganoven, die mit versteinerter Miene und Handschellen zwischen zwei der Polizisten saßen. Karinas Onkel antwortete: „Wenn wir jetzt schnell aufs Revier fahren, sind wir bis zum Morgengrauen damit durch, ihr müsst alle mitkommen!“

Fortsetzung folgt