„Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht“

Teil 1
Am 24. Februar, so sagten viele, ging eine Zeitepoche zu Ende. Nach monatelanger, immer stärker werdender Präsenz fielen die russischen Truppen auf Befehl des Präsidenten Wladimir Putin in die benachbarte Ukraine ein. Das – sich schon lange abzeichnende – Scheitern des Versuches, Putin in die europäische Sicherheitsstruktur einzubinden, offenbarte sich nun in seiner vollen Größe. Ein brutaler und völkerrechtswidriger Krieg begann, dessen erste globale Auswirkung wir schnell an unseren Zapfsäulen bemerkten. Doch wie konnte es überhaupt dazu kommen und warum ist Russland überhaupt an der Ukraine interessiert? Während der Westen sich immer weiter von Russland abschottet, wird vor allem eines klar: Durch diesen polarisierenden Krieg muss sich jedes Land entscheiden, wo es steht, auch wenn sich viele damit schwer tun.

Trotz monatelangem Vorspiel war es ein Schlag ins Gesicht, noch 2-3 Tage vor Kriegsbeginn wollte noch niemand so recht daran glauben. Selbst noch als Putin wenige Tage vor Kriegsbeginn die ukrainischen Separatistengebiete Luhansk und Donezk für unabhängig erklärte und Bündnisse mit ihnen schloss, hielten viele den Konflikt noch für abwendbar, bis dann am 24. Februar um ca. 4:30 Uhr die verheerende Nachricht kam. Außenministerin Annalena Bearbock fand am Mittag dieses Tages recht treffende Worte: „Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht“, sagte sie. Doch wie konnte es soweit kommen?
Die Nato-Osterweiterung in den letzten 20 Jahren, also die Frage nach den vom Westen übergangenen Sicherheitsinteressen Russlands, ist ein Faktor, der eine nicht unwichtige Rolle spielen mag, er erklärt aber nicht befriedigend, warum Putin den wirtschaftlichen Zusammenbruch seines Landes riskiert und warum er einen fast heiligen Anspruch auf die Ukraine erhebt. Als Antwort hierfür wird oft genannt, dass Putin ein „Irrer“ sei, dass er die Sowjetunion bzw. das russische Imperium wiederherstellen wolle und dass es einfach nur daran liege, dass die Ukraine früher Teil der Sowjetunion war. All das mag in Teilen stimmen, aber es gibt noch tiefer und in der Zeit viel weiter zurück liegende Zusammenhänge und Gründe, die Suche führt sogar mehr als tausend Jahre zurück.

Putin spricht oft von der historischen Einheit des russischen, ukrainischen und des belarussischen Volkes. Im 9. Jahrhundert entstand das mittelalterliche Großreich Russ, das Kiewer Russland. Die heutige ukrainische Hauptstadt Kiew war als Hauptsitz der Fürsten die Wiege der russischen Kultur und Kirche. Durch viele Konflikte verlagerte sich das Zentrum Russlands nach Moskau. Die Ukraine, aber auch Russland beanspruchen deswegen das alte Kiewer Großreich als ihren Gründungsmythos. Diese Begebenheit nutzt Putin aus, um das „selbstverständliche Recht“ auf die Ukraine zu begründen. „Ich betone nochmal, dass die Ukraine nicht nur ein Nachbarland von uns ist, sie ist ein unentbehrlicher Teil unserer Geschichte, unserer Kultur und unseres geistigen Raumes“, das sagte Putin wenige Tage vor Kriegsbeginn.

Doch so ganz stimmt das nicht. Schon früh begann sich die ukrainische Kultur ein bisschen von der russischen abzuwandeln und es gab nationale Unabhängigkeitsbestrebungen. Schon im Mittelalter gab es Zeiten, in denen die Ukraine nicht zu Russland gehörte und schließlich, 1917 nach dem Zerfall des russischen Zarenreiches, wurde die Ukraine sogar für fünf Jahre unabhängig, bevor sie 1922 von der Sowjetunion gewaltsam wieder eingegliedert wurde.
Während des Kalten Krieges hatte die Ukraine für die Sowjetunion einen geographischen, einen strategischen und einen ökonomisch sehr wichtigen Status. Für viele Generationen, auch für die Putins, war dann der plötzliche Verlust der Ukraine ein schwer zu verkraftender Schlag:

1991 zerfiel die Sowjetunion, Belarus und die Ukraine wurden selbständige Staaten, letztere sogar bestätigt durch ein Referendum (Volksabstimmung). Die 17% Russen in der Ukraine waren nun plötzlich eine Minderheit in einem fremden Land. Drei Jahre später, 1994, unterzeichnete die Ukraine ein Memorandum mit Russland, das unter anderem absicherte, dass Russland die Grenzen der Ukraine, so wie sie damals waren, nicht verletzten würde. Als Gegenleistung gab die Ukraine ihre sowjetischen Atomwaffenarsenale an Russland zurück. Selbständigkeit und Souveränität der Ukraine sind also eine historische und völkerrechtliche Tatsache.

Fortsetzung folgt